Mittwoch, 8. April 2020

Der lange Weg zurück

Die COVID-19-Pandemie hat auch Deutschland nach wie vor fest im Griff. Aber inzwischen haben wir doch ein wenig mehr Klarheit gewonnen, als das noch Anfang März der Fall war. Klar ist: die aktuellen Ausgangsbeschränkungen und Verordnungen zur Schließung vieler Geschäfte und das Verbot von Veranstaltungen sind prinzipiell richtig. Die Infektionsrate muss gesenkt werden. Das funktioniert auch. Die Neuinfektionen gehen in absoluten Zahlen ein wenig zurück und in relativen Zahlen sinkt die Ansteckungsrate deutlich. 

Inzwischen mehren sich auch die Anzeichen, was an den pauschalen Maßnahmen alles falsch ist. Was mich dabei ärgert, sind die Fatalismen und das simple Denken, mit dem an die Krise herangegangen wird: wer die Wirtschaft wieder aufmachen wolle, opfere Menschenleben dem Profit. Das ist Unsinn. Allgemein bemerkt opfern wir jeden Tag Menschenleben unserem Komfort. Das fängt schon mit der billigen Kleidung bei Discountern an und dem Schürfen seltener Erden für unsere Smartphones, über die allzu viele allzu moralische Kommentare absondern, an. Dafür arbeiten sich Kinder in anderen Ländern der Welt kaputt. Und es hört nicht mit unserem heißgeliebten Straßenverkehr auf, bei dem wir jährlich immer noch 3.000 Menschen totfahren, vorrangig weil Menschen allesamt jämmerliche Autofahrer sind, die kein Gefährt oberhalb von 25 km/h für andere halbwegs sicher steuern können. Insofern hat COVID keine Alleinstellung wenn es darum geht, Interessen abzuwägen.

Zum anderen gibt es nicht "die Wirtschaft". Es gibt stattdessen Millionen von Menschen, die von ihrer Arbeit leben wollen und müssen und denen gerade pauschal verboten worden ist, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Wir sperren Millionen Zuhause ein, darunter Millionen Kinder, und werfen mit pauschalen Verboten um uns, anstatt zu überlegen, welche Maßnahmen wie viel konkreten Nutzen bringen und dann diese effektiv einsetzen. Statt das wir uns halbwegs clevere und zielsichere, über das Land eher ungleich verteilte Maßnahmen überlegen, schreien wir nach zentralen Lösungen, die alle gleichermaßen treffen und die uns irgendwie gerecht vorkommen, die aber relativ ineffizient sind. Das Infektionsrisiko ist aber in München Mitte ein ganz anderes als im altmärkischen Dorf. Daran wird sich auch nichts ändern.

Momentan können wir auch sehen: das deutsche Gesundheitssystem ist weit von einer Überlastung durch Covid-Patienten entfernt. Da haben wir es deutlich besser als viele andere große Länder der Welt, immerhin verfügen wir über eine der höchsten Anzahl an Intensivbetten pro Einwohner und ein sehr gut ausgebautes Gesundheitssystem. Und da die Bugwelle der Pandemie in Deutschland nicht mehr größer wird, sondern inzwischen "nach hinten raus" fast ebensoviele Menschen als gesundet gelten wie sich neu infizieren, wird die befürchtete große Welle schon rein statistisch nicht mehr kommen.

Wir konnten die deutschlandweit 30.000 Intensivbetten auf 40.000 aufstocken. Davon sind rund ein Drittel anderweitig besetzt, stehen uns also 25.000 Betten zur Verfügung. Bei durchschnittlich 15 Tagen Liegedauer je Patient können wir damit täglich 1.666 neue Patienten aufnehmen, denn nach 15 Tagen Liegedauer werden im Schnitt auch 1.666 wieder entlassen oder sind gestorben. Bei einer Quote von rund 5% intensivpflichtigen Patienten wäre damit eine Neuinfektionszahl von rund 33.000 Menschen pro Tag gerade noch handlebar. Eine Menge Zahlen und Grafiken findet man bspw. in der aktuellen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie. Seit rund zwei Wochen schwankt die Zahl der Neuinfektionen zwischen 4.000 und 6.000 Personen. Sie liegt also weit unterhalb dessen, was unser Gesundheitssystem handhaben kann. Das ist zunächst mal eine positive Feststellung, denn auch das ist mit verantwortlich dafür, dass es in Deutschland relativ wenige Tote durch Covid gibt.

Wir haben die Krise nicht hinter uns, aber wir haben den Punkt erreicht, von dem aus wir einen guten Überblick haben. Und anhand dieser sehr groben und ja, bisweilen auch noch unklaren Zahlen kann man sich nun überlegen, wie man mit der Situation weiter umgehen will:
  • Man kann versuchen, die Grenzen des Möglichen auszureizen und eine Erhöhung der täglichen Neuinfektionszahl auf vielleicht 20.000 bis 30.000 Menschen zuzulassen. Dies zu "steuern" dürfte eine - sagen wir mal - interessante Aufgabe sein. Sie bedeutet trotz der ausreichenden Kapazitäten des Gesundheitssystems reichlich tote Menschen, denn manche werden einfach trotzdem sterben. Und wir hätten nach rund sechs Monaten auch nur rund 4 bis 5 Millionen immunisiert. Brauchen würden wir eher rund 40 Millionen, also das zehnfache. Aktuell ist auch unklar, wie lange die Immunisierung anhält und wie effektiv sie ist. Also ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Man kann dazu hier mal ein bisschen mit dem Epidemic Calculator rumspielen.
  • Man kann versuchen, die Epidemie auszumerzen, d.h. die Zahl der Neuinfektionen auf quasi 0 zu senken und die Sache dann auszusitzen. China hat das offenbar geschafft, aber es ist eine harte Strategie, bei der man zunächst versuchen muss, die Basisreproduktion über einen Zeitraum von vielleicht drei Monaten auf auf einen Wert von vermutlich irgendwas unter 0,3 zu senken. Das bedeutet harte Ausgangssperren und Stillegen der Wirtschaft, sozusagen wie in Italien bzw. eben Wuhan. Rein wirtschaftlich halten wir das durchaus durch, entsprechende Kreditprogramme und vor allem Liquiditätshilfen des Staates vorausgesetzt. Der Umfang dessen betrüge vielleicht 1 Billion Euro, was richtig viel ist - ein Drittel des deutschen BIP - aber in Anbetracht unserer finanziellen Möglichkeiten ist das machbar. Schwieriger dürfte die gesellschaftliche Seite sein. Ich habe Zweifel, das wir ein solches Szenario ohne große Randale durchhalten. 
  • Eine nationale und internationale Anstrengung: wir koordinieren auf europäischer Ebene alle Anstrengungen im Gesundheitssektor, der Verteilung von Patienten und deren Behandlung um so wenig Menschen wie möglich sterben zu lassen. Gleichzeitig treiben wir die Forschung kooperativ und mit massivem Mitteleinsatz sehr stark voran und gelangen so zügig zu Impfstoffen. Der Erfolg ist da quasi unausweichlich. Wir digitalisieren das Handling der Tests, der Lokalisierung von Infizierten und dem Umgang mit dem Erkennen von potentiellen Infektionsherden auf ein ganz neues Niveau. Für ein Volk, das bedenkenlos seine privatesten Daten internationalen Werbekonzernen überlässt, sollte eine weitgehend freiwillige Teilnahme an so einem Programm recht easy sein. Dadurch gelingt es uns, das Virus auf vielen Ebenen gleichzeitig anzugehen und in einem Jahr haben wir die Sache erledigt, ohne bis dahin in einem Starrezustand verharren zu müssen. 
Hier einige Szenarien, wie wir in eine neue Normalität zurückkehren können:
  • Testen Testen Testen:
    Jeder mit auch nur dem Hauch eines Verdachts auf eine Infektion muss quasi sofort getestet werden. Darüber hinaus müssen alle getestet werden, die an exponierten Stellen arbeiten und zwar regelmäßig, das heißt im Wochentakt. Dazu gehört das gesamte Personal des Gesundheitssystems. Wer positiv getestet wurde, muss in Quaratäne, ebenso wie alle Personen, mit denen er Kontakt hatte. Und natürlich müssen alle Einreisenden getestet werden und zwar so zuverlässig, das das nur mit Beschränkungen verbunden sein kann. Das bedeutet vor allem für Flughäfen: der Check-Out wird genaus langwierig wie der Check-In. Es bedeutet Soforttests für jeden Einreisenden (ja, für jeden der rund 130 Millionen Flugreisenden in und aus Deutschland heraus) und das Warten auf deren Ergebnisse, die vielleicht in zwei bis vier Stunden feststehen, bevor man raus darf. Und das wiederum bedeutet viel weniger Passagiere, weil sonst die Kapazitäten fürs Warten und Auschecken nicht reichen. Aber zumindest können wir den Flugbetrieb wieder aufnehmen und zumindest können wir vielleicht die Hälfte der bisherigen Passagiere befördern. 
  • Quarantäne für alle Risikogruppen
    Jeder Infizierte muss in Quarantäne. Jeder, der Kontakt mit einem Infizierten hatte, muss in Quarantäne. Jeder, der zu einer gesundheitlichen Risikogruppe gehört, muss in Quarantäne. Alle anderen können vorerst weitermachen, bis sie selbst zu einer Risikogruppe gehören. Konsequente Eindämmung, die rasch geschieht, und nicht erst nach Tage, muss Priorität haben. 
  • Effizienterer Umgang mit der Situation und Handlungsableitungen: wir setzen auf Mikromanagement statt nationaler Gleichbehandlung. Es gibt keinen Grund, warum man in dünnbesiedelten Landkreise denselben Einschränkungen unterworfen sein muss wie in München oder Hamburg. Die Ansteckungsgefahr im normalen öffentlichen Leben ist im Bayerischen Wald oder der Uckermark um Größenordnungen geringer als in städtischen Zentren. Insofern können wir da auf lokales Management setzen. Um es deutlich zu sagen: es gibt überhaupt keinen guten Grund, das ganze Land mit den gleichen Maßnahmen zu überziehen. Das machen wir nur aus Faulheit und einem falsch verstandenen Anspruch an Gerechtigkeit so. 
  • Wir brauchen dringend eine effiziente Organisation, die sofortige Maßnahmen umsetzen kann. Weder das Bundesgesundheitsministerium, noch das RKI, noch die Landesbehörden noch die Sicherheitsbehörden haben sich in dieser Krise als effiziente Organisationen erwiesen. Stattdessen war und ist man in typisch deutscher Behäbigkeit mehr damit beschäftigt, sich nicht angreifbar zu machen und möglichst viele Konjunktive zu verwenden, anstatt Führung vorzugeben. Das RKI stritt bis vor wenigen Tagen ab, das Masken bei der Infektionseindämmung helfen und hielt es im Januar für unwahrscheinlich, das Corona überhaupt nach Deutschland käme. In Anbetracht der globalen Verkehrsströme ist das eine Fehleinschätzung epischen Ausmaßes. Das BMI tat nichts, um hunderte Infizierte an der Einreise nach Deutschland zu hindern. Und es tat nichts, um den Anstieg des Exports von Schutzausrüstung ab Mitte Januar zu unterbinden oder zumindest dafür zu sorgen, eigene nationale Vorräte anzulegen, obwohl man deutlich gewarnt wurde. Man tat im Januar und Februar auch insgesamt nicht sehr viel, obwohl man doch in China und dann auch Italien sehen konnte, wohin das führt. Stattdessen versicherte man sich gegenseitig der eigenen Sorglosigkeit und ging zur Karnevalssitzung. Wie blöde. Das muss künftig anders werden. Tritt irgendwo auf dem Globus eine Epidemie auf, müssen sofort Beschränkungen bei der Einreise in Kraft treten und an den Grenzen müssen strikte Tests gefahren werden.
  • Maskenpflicht: Natürlich stellt das Tragen einer Maske einen gewissen Schutz vor einer Infektion dar. Das gilt sowohl für den Maskenträger selbst als auch für alle anderen, denen er begegnet. Das Tragen einer noch so behelfsmäßigen Maske ist immer ein physischer Schutz vor der Tröpfcheninfektion. Und die ist statistisch die einzig wichtige. Je hochwertiger die Maske, desto besser der Schutz. Hier hilft die Statistik: tragen bspw. 50% der Bevölkerung Masken, die die Ansteckungsrate im Schnitt um 25% senken, infizieren sich 12,5% weniger Menschen (in Wirklichkeit liegt die Zahl natürlich höher, denn diejenigen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen, stecken natürlich per se viel mehr Leute an - das ist ein sogenannter Bias).
    Über einige Wochen hinweg ist das ein enormer Betrag. Andere Länder haben hiermit bereits gute Erfahrungen gemacht, Südkorea, Taiwan und Japan sind die besten Beispiele. Dazu müssen wir lediglich unseren Habitus ändern, das Maskentragen etwas albernes ist, das nur Idioten tun.
    Außerdem hilft die Maskenpflicht bei der Schärfung der Aufmerksamkeit. Wer eine Maske trägt und das bei anderen sieht, ist sich der Situation bewusster und geht weniger Risiken ein. Und er  tatscht sich nicht ständig an Nase und Mund. Natürlich setzt mit der Zeit ein Gewöhnungseffekt ein, aber es wird dennoch helfen
  • Verkleinerung:
    Wir werden alles kleiner machen müssen. Kleinere Klassen in den Schulen. Kleinere Gruppen in den Kindergärten. Kleinere Feste im Privaten. Jeden zweiten Sitzplatz im Kino, Fußballstadion und Theater leer lassen. Und natürlich auch im Flugzeug, Zug, Bus oder im Hotelrestaurant, Cafe und in der Bar - dort am besten zwei von drei. Auf keinen Fall darf es  Veranstaltungen mit dichtgedrängten Stehplätzen geben, d.h. keine Fußballspiele mit besetzter Ultra-Fankurve. Keine Festivals und Riesenkonzerte, keine vollbesetzten Kreuzfahrten. Keine vollen Rummelplätze. Jeden zweiten Platz im Callcenter und im Großraumbüro frei lassen. In Behörden, Krankenhäusern, Ämtern und überhaupt überall wo möglich muss das Terminprinzip eingeführt werden, um volle Warteräume zu vermeiden. Und natürlich gibt es bis auf weiteres weder dichtgedrängte Oktoberfeste noch Apré Ski, wo sich haufenweise risikofreudige, merkbefreite Leute gegenseitig mit Beer Pong anstecken "weil's grad so sche is". Ischgl können wir sicherheitshalber abreißen und eine Heublumenwiese daraus machen. Alles in allem: Abstand halten und Risikobewusstsein sind die Maximen, mit denen wir öffentliches Leben zulassen können, ohne die nächste Infektionswelle zu starten. 
  • Verbesserung der öffentlichen Hygiene:
    Alle Einrichtungen der öffentlichen Hand müssen ein Vorbild an Hygiene werden: in den Schulen und Universitäten müssen die sanitären Einrichtungen in Ordnung gebracht werden. Die Aufklärung und Schulung vor allem der Personengruppen mit vielfältigen Sozialkontakten (Superspreader) muss intensiviert werden. Händewaschen und Putzen muss instinktiv werden. 
Oh ja, all das wird Geld brauchen. Es wird uns allerdings nur ein paar Milliarden kosten. Die Alternative ist natürlich der jetzige Zustand, der uns Hunderte von Milliarden kostet. Bei all dem wird also deutlich: ein zurück in das vorherige "Normal" wird es erst dann geben, wenn wir sowohl einen Impfstoff als auch wirksame Medikamente gegen Covid an sich haben. Das kann Ende des Jahres 2020 oder auch erst in 2021 der Fall sein. Das Gute ist: Die Mittel werden kommen, ohne Zweifel, denn bei den Geldern, die jetzt auf die Forschung geworfen werden, wird über kurz oder lang ein Erfolg eintreten - das Gesetz der großen Zahl. Das Schlechte ist: Es spielt langfristig kaum eine Rolle, denn die nächste Pandemie steht schon irgendwo in den Startlöchern. Mit der gehen wir dann vielleicht besser um. 

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