Beim Nachdenken darüber, wie ich in einigen Jahren meinen Kindern den Umgang mit dem Internet, mit Privatsphäre und dem jugendlichen Alltag erklären will, ist mir deutlich geworden, in was für einer ausgezeichneten Zeit ich selbst aufgewachsen bin. In den Achtziger Jahren gab es noch keine Digitalkameras und Smartphones, die Computer für Privatanwender steckten noch in den Kinderschuhen und an "das Internet" wurde gerade einmal in militärischen und wissenschaftlichen Kreisen gedacht. Für mich als unbeschwerten, naiven und fröhlichen Jungen war die Welt ein Dorf des Vergessens und ich machte mir keine Gedanken darüber, das irgendwelche meiner Streiche und Fehlgriffe irgendwelche Folgen für mein späteres Leben haben könnten. Ich lebte in der beruhigenden und leichtsinnigen Gewissheit, dass mein Leben im Jetzt nicht dokumentiert, gespeichert, vervielfältigt, kopiert, geteilt und verteilt werden würde - einfach weil es die technischen Möglichkeiten noch nicht so wie heute gab und sich auch niemand groß dafür interessiert hat.
Gleichzeitig jedoch konnte ich den "Rise of the machines", um das so pathetisch auszudrücken, live und hautnah miterleben. Ich war einer der ersten meiner Generation und Altersklasse, der einen eigenen Computer zuhause hatte (einen Amiga 500), danach dann Anfang der Neunziger ein Mobiltelefon (einen Nokia Communicator 9000 und seine Nachfolger) und ebenfalls zur selben Zeit ein erstes Notebook (mit glorreichem 120 Mhz Pentium-Prozessor und 16 MB RAM). Ich konnte das Rauschen und Pfeifen meines ersten Modems um 1993 herum erleben, als das Internet gerade anfing, für Privatnutzer interessant zu werden. Die schnelle Entwicklung war spannend und aufregend und ist es bis heute - und es liegen gerade mal 15 Jahre zwischen den pfeifenden und rauschenden 56 kbit/s damals und den 100.000 kbit/s heute.
Und dann kamen die ersten Digitalkameras auf und ab Anfang der 2000er auch Smartphones mit integrierter Kamera - und damit einhergehend ein weniger schleichender, als vielmehr abrupter stetiger Verlust der Privatsphäre. Durch die ständige Verfügbarkeit und Anwesenheit der digitalen Dokumentationsmöglichkeiten, ist es viel schwieriger geworden, seine Privatsphäre zu schützen. Zu jedem Zeitpunkt muss man heute damit rechnen, das man selbst - ungewollt und ohne Zustimmung - auf Fotos oder Filmen landet, über die man sofort keine Kontrolle mehr hat. Das soeben gemachte, höchst peinliche Foto landet umgehend nach dem Aufnehmen auf Facebook und Twitter, wird 100 Mal geteilt und kann selbst vom Absender nicht mehr zurückgeholt werden. Diese Entwicklung bereitet mir Sorge.
Mit diesen Ausführungen ist noch nicht gesagt, dass Privatsphäre per se etwas Notwendiges oder Gutes ist. In einer idealen menschlichen Gesellschaft bräuchten wir sie vielleicht gar nicht, weil wir alle aufgeklärt und verständnisvoll genug wären, um all die Dinge, die wir hinter unserer Privatsphäre zu verbergen trachten, in unserer Bewertung anderer Menschen durch eine reifere Art vernachlässigen zu können. Aber zum einen haben wir diese Gesellschaft nicht und werden sie nie haben und zum anderen geht es nicht um die Frage, ob Privatspähre notwendig, richtig, gut oder wünschenswert ist. Sondern es geht darum, dass jeder Mensch seine Privatsphäre in dem Maße erhalten und schützen darf, so wie er selbst es möchte. Privatsphäre ist ein elementarer Bestandteil der individuellen Freiheitsrechte und sie darf niemandem gegen seinen Willen genommen werden. Weder von gutmeinenden Fortschrittsidealisten, noch von wohlmeinenden staatlichen Institutionen noch von achtlosen Freunden. Wer nicht will, dass seine privaten, intimen Lebensumstände vor der Weltöffentlichkeit ausgebreitet werden, der hat das unveräußerliche Recht darauf, dass dies nicht geschieht - egal wie einfach das in der Always-online-Zwitscher-Plapperwelt geworden ist. Und dieses Recht dürfen wir niemandem nehmen, da wir uns sonst zu Diktatoren machen.
Die Durchsetzung dieses Rechts ist heute jedoch um Größenordnungen schwieriger geworden als es das noch vor 20 oder 30 Jahren war. Die Leichtigkeit des Kopierens, des Verteilens und die "Ewigkeit" der Speicher macht es fast unmöglich, einmal dokumentierte Ereignisse zu vergessen. Denn alles kann immer wieder irgendwo hervorgeholt werden, auch wenn es schon 20 Jahre zurückliegt. Man muss dabei gar nicht dramatisch werden, sondern kann das im Kleinen nachvollziehen: wer hat sich nicht als Jugendlicher auf einer Party völlig daneben benommen und sich vielleicht volltrunken im Garten des Gastgebers ausgekotzt. Eine Dokumentation in Bild und Ton wäre vor 100 Jahren unmöglich gewesen, vor 50 Jahren höchst selten, vor 20 Jahren mit gewissen Umständen und heute ist sie problemlos durchzuführen und für ewig speicherbar. Und wie reagiert man, wenn man mit 40 Jahren als gereifter Mensch für ein öffentliches Amt antritt und die deutsche Boulevard-Presse dann Videos und Bilder veröffentlicht, die von ehemaligen Jugendfreunden meistbietend verkauft worden sind und einen dabei zeigen, wie man nackt und betrunken am Strand liegt und mit seiner Freundin knutscht. Und das ist vielleicht noch die harmlose Variante, man kann sich noch schlimmeres vorstellen.
Wir sollten nicht vergessen, dass ein wesentlicher Bestandteil der individuellen Freiheit auch die Möglichkeit des Vergessens und Hinter-sich-lassens ist. Und dass das Verzeihen und Verarbeiten von Untaten für beide Seiten eng mit Nicht-Dokumentation und dem damit einhergehenden Verblassen der Erinnerung verbunden ist. Angesichts der heutigen Leichtigkeit permanenter Dokumentation verlieren wir auch den Sinn dafür, dass Nicht-Dokumentation wichtig ist. Viele Ereignisse sind es sogar gar nicht wert, dokumentiert und erinnert zu werden. Wenn aber Vergessen nicht mehr möglich ist, weil private Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, durch eine Suche in den verzweigten Datenspeichern des Internet ohne Schwierigkeiten wieder und wieder hervorgeholt werden können, dann wird unsere Gesellschaft mit dem Fluch der ewigen Erinnerung belastet und die Gefahr ist groß, dass wir uns im Privaten und im Öffentlichen in Dauerfehden um längst Vergangenes verstricken, weil nicht vergessen wird. Den jetzt kommenden Generationen wird es jedoch vermutlich unmöglich sein, zu vergessen. Ein Segen ist die digitale Welt hier nicht und wir sollten daher vorsichtig mit dem zerbrechlichen Gut dessen Vergessens und damit auch mit unserer individuellen Freiheit umgehen.
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